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Direktverkauf: Klassische Moderne

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Gustav Klimt

(Wien 1862 - 1918 Wien)

„Liegender Akt mit Baby (recto), Stehender Akt nach vorne gebeugt (verso)“
1908/09
Blauer Farbstift auf Papier; gerahmt
37 x 56 cm
Nachlass-Stempel links unten
Sammlungsstempel links unten und rückseitig: Rud. Staechelin'sche Familienstiftung, Nr. 238

Provenienz

aus dem Nachlass des Künstlers;
Sammlung Rudolf Staechelin, Basel (Sammlungsstempel);
Galerie Würthle, Wien;
Hassfurther Wien, 27.05.2004, Nr. 11;
österreichische Privatsammlung

Ausstellung

1978 Wien, Galerie Würthle, Gustav Klimt. Zeichnungen, Nr. 37;
1983 Zürich, Galerie Knoedler, 24.09.-03.12., Nr. 18;
1986 Wien, Galerie Würthle, Klimt, Ensor, Schiele, 25.04.-07.06., Nr. 18

Literatur

Alice Strobl, Gustav Klimt. Die Zeichnungen 1904-1912, Bd. II, Salzburg 1982, WV-Nr. 1895, Abb. S. 215 (Rückseite) und WV-Nr. 1960, Abb. S. 235 (Vorderseite);
Gustav Klimt 1862-1918, Egon Schiele 1890-1918, James Ensor 1860-1949, Alfred Kubin 1877-1959, Künstler der Jahrhundertwende, Veith Turske (Hg.), mit Beiträgen von Irène Kutter, Erwin Mitsch, Barbara Catoir und Alice Strobl, Katalog Galerie Knoedler, Zürich 1983, Nr. 18 (Abb.);
Rainer Metzger, Gustav Klimt, Das graphische Werk, Wien 2005, Abb. S. 256/257;
Marian Bisanz-Prakken, Gustav Klimt. Drawings, Wienerroither & Kohlbacher (Hg.), W&K Edition, Wien 2023, Nr. 33, Abb. S. 100/101

Verkaufspreis: € 135.000 inkl. Gebühren und ggf. Folgerecht
Auktion ist beendet.

Auf Grund der ihr bekannten Fotos, aus denen sich diese Zusammengehörigkeit nicht ableiten ließ, veröffentlichte Alice Strobl die in blauem Farbstift ausgeführten Aktfiguren als zwei für sich bestehende Arbeiten. In ihrem Werkkatalog ordnete sie den vorgebeugt stehenden Akt den „Studien 1908/09“ zu, während das liegende Modell mit Baby bei der Gruppe „Akte und Halbakte 1910“ anzutreffen ist. Da es naheliegend erscheint, dass Vorder- und Rückseite etwa zur gleichen Zeit verwendet wurden, stellt sich die Frage, welche der jeweils vorgenommenen Datierungen am ehesten zutrifft. Fest verankert in ihrem Umfeld ist ohne Zweifel die Darstellung des vorgebeugt stehenden Modells. Die Zugehörigkeit dieser Zeichnung zu einer kleinen Gruppe von Aktstudien, die sich durch innovative Experimente mit extremen Körperstellungen und Perspektiven auszeichnen, ist evident (Strobl II, Nr. 1888-1895). Während Klimt sich als Maler zwischen 1908 und 1909 in einer Phase des Übergangs vom Goldenen Stil zu einem neuen Realismus befand, suchte er als Zeichner den spannungsvollen Ausgleich zwischen einer strengen, geometrisch betonten Ordnung auf der einen, und einem hohen Grad an Natürlichkeit auf der anderen Seite – so auch im vorliegenden Fall. Der perspektivische Blick auf das fast frontale, vorgebeugt stehende Modell regte Klimt dazu an, die Raumschichten markant voneinander abzusetzen und in die Fläche zu zwingen: Dicht gestaffelt zeigen sich die Kopf- und Schulterpartie mit den scharf hinausragenden, abgewinkelten Armen, die Wellenlinien der Brüste und die zarten Umrisse der weichen Bauch- und Hüftgegend. Im vorgetäuschten Nebeneinander von Brustwarze und Nabel findet das Spiel mit der Perspektive ihre raffinierte Zuspitzung. Als erotische Note gewährt das kleine, leere Dreieck unterhalb der Schambehaarung einen minimalen „Tunnelblick“. Delikate Sinnlichkeit und monumentale Strenge halten sich die Waage und gehen eine für Klimt charakteristische Verbindung ein.
Nicht weniger monumental wirkt die horizontale Wiedergabe der aufgestützt liegenden Frau, deren mütterlich wirkende, weiche Körperformen sich über einen Großteil der Papierfläche ausbreiten. Ihr gesenkter Blick ist auf das vor ihr liegende Baby gerichtet, das unmittelbar auf den Betrachter blickt. Mit sparsamen Linien charakterisiert Klimt sowohl die Mimik und die Gestik der Mutter als auch die zarte Physiognomie und die geballten Fäustchen des Kindes, dessen Wesen er mit großer Empathie erfasst. Alice Strobls Zuordnung dieser Zeichnung zur Gruppe „Akte und Halbakte 1910“ wirft einige Fragen auf. Auf den ersten Blick scheint der Körpertypus der hier gezeigten, liegenden Frau den fülligen Modellen der vorhin genannten Studiengruppe nahe zu kommen. Letztere Aktdarstellungen vermitteln auf Grund ihrer festen, stellenweise kräftig wiederholten Umrisslinien jedoch einen kompakteren Eindruck. Durch ihre behutsam nuancierende Strichführung zeigt sich unsere Zeichnung mit einem Großteil der 1908/09 entstandenen Studien verwandt, etwa mit den frühesten Arbeiten für das Gemälde „Tod und Leben“, unter denen sich die Studie eines Babys befindet (Strobl II, Nr 1885). Darstellungen von Babys sind auch im Rahmen der Vorbereitungen für das Gemälde „Die Familie“ anzutreffen (Strobl II, Nr. 1866). Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass im großen Spektrum der 1908/09 entstandenen Zeichnungen der blaue Farbstift häufig zur Anwendung gelangt. Sämtliche Indizien sprechen für die Annahme, dass „Liegender Akt mit Baby“ – im Einklang mit dem auf der anderen Seite dargestellten, vorgebeugt stehenden Modell – um 1908/09 entstanden ist. Weder die eine, noch die andere Zeichnung lässt sich eindeutig mit einem Gemälde in Verbindung bringen. Beide Arbeiten entstanden als autonome Experimente und zeigen einmal mehr, wie vielschichtig Klimt sich als Zeichner dem Phänomen der Frau gewidmet hat.
(Marian Bisanz-Prakken, 2018)